Flexibilität – mit System statt mit heroischem Einsatz

Kennen Sie das? Trotz permanenter Verbesserung erscheint das eigene Produktions- und Liefersystem immer noch träger als das, was die Kunden (und der Vertrieb) erwarten. Schlagwort: „Ihr müsst schneller und flexibler werden!“ Eigentlich nichts Neues.

Was soll sich ändern? Als „Triple-A-Supply Chain“ hat das der Stanford Professor Hau Lee einmal bezeichnet: fast, cost-effective, agile/adaptable *. Seine Beobachtung war, dass Unternehmen, deren Supply Chains immer effizienter wurden, im Laufe der Zeit dennoch Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt haben. Wettbewerbsvorteile entstehen viel mehr aus der Fähigkeit, sehr kurzfristig auf Bedarfsveränderungen zu reagieren sowie Strategien und Strukturen permanent anzupassen. Dazu kommt ein geschickter Interessensausgleich aller Beteiligten im Liefernetzwerk (gilt übrigens ebenso firmenintern) mit dem Ziel, die Leistungsfähigkeit in der Kette zu optimieren.

Wie könnte das gehen? Die herkömmlichen Strategien, wie dynamische Arbeitszeitmodelle, Mehrfachqualifikation von Mitarbeitern, gezielte Bestandspuffer, sind unverzichtbar, aber nicht hinreichend. Ad-hoc improvisieren schadet auf Dauer mehr als es bringt. Es geht vor allem um andere Prioritäten in der Gestaltung und Steuerung der Lieferkette:

Möglichst nah am tatsächlichen Kundenbedarf produzieren.

Im Lean Management Jargon heißt das „im Kundentakt produzieren“. Was für einen Automobil- oder Großserienfertiger noch plausibel klingt – beispielsweise als „heijunka“ oder EPEI (Every Part Every Intervall) – stellt sich für einen variablen Kleinserienproduzenten mit hoher Fertigungstiefe alles andere als simpel dar. Dennoch ist es extrem sinnvoll dieses Ziel zu verfolgen, um knappe Ressourcen optimal zu nutzen – selbst wenn es manchem gestandenen Fertigungsleiter unproduktiv erscheinen mag. Flexibel agieren bedeutet, vorhandene Kapazitäten genau für die Aufträge einzusetzen, die gerade anstehen und nicht (unreflektiert) dafür, Lager aufzufüllen. Und das alles mit Standardprozessen!

In Flexibilität investieren.

Es klingt banal, aber Transparenz (visuell, im IT-System), rüst-arme Anlagen oder interne Qualifikations- und Zusammenarbeitsmodelle, die es kurzfristig erlauben personelle Engpässe abteilungsübergreifend auszugleichen, sind ein erster Schritt (Prozess Flexibilität). Ein guter Grundsatz ist, zunächst nach möglichst einfachen (und kostengünstigen) 80%-Lösungen zu suchen; mehr Komplexität hindert Flexibilität.

Mehr Flexibilität: Einfacher ist häufig besser.

Als zweites steht die Verbesserung der „System Flexibilität“** an. Wenn es beispielsweise mehrere Produktlinien gibt sowie verschiedene Werke, ist es häufig von Vorteil, statt einer eins-zu-eins Zuordnung, das gleiche Produkt aus mehreren Standorten liefern zu können. Gleiches gilt für Fertigungslinien. Kriterien für den Nutzen von Flexibilität sind Lieferfähigkeit, Lieferzeit, vermiedene Opportunitätskosten (Umsatzverlust, Sondertransporte, …), Risikoaspekte sowie die Gesamtkosten der Lieferung (Total Supply Chain Cost) – nicht jedoch die reinen Herstellkosten, die gerne zugrunde gelegt werden. Offensichtlich ist, dass sich Auftragsspitzen besser abfedern lassen, wenn kurzfristig auf Kapazitäten aus mehreren Werken zugegriffen werden kann. Auch hier ist die Voraussetzung Transparenz. Das ERP-System muss ad-hoc Auskunft über die aktuelle Verfügbarkeit von Material und Kapazitäten bzw. den Auftragsstatus geben, über alle Standorte und Lager.

Die Überlegungen zur System Flexibilität lassen sich im Übrigen auf Lieferanten und Kunden ausdehnen. Bei diesem Teil des Investment geht es dann vor allem um Zusammenarbeitsmodelle und Vertrauen. Auch Industrie 4.0 Ansätze spielen eine Rolle. … Aber das wäre ein eigenes Kapitel.

Flexibilität braucht Kreativität

Unternehmen, denen Flexibilität (= Improvisation) in der DNA steckt, und von denen gibt es zumindest im Mittelstand viele, sollten ihr Talent zur Improvisation in Kreativität ummünzen. Klar braucht das Zeit und selbständige Mitarbeiter. KVP (kontinuierliche Verbesserung) wäre ein guter Ansatz, um neue Standardprozesse zu entwickeln, die eine atmende Produktion (oder Beschaffung) weiter fördern. Kreativität bedeutet auch, alte Töpfe abzuschneiden, und „willkürliche“ Abschreibungsregeln für Anlagen fallweise anzupassen, wenn beispielsweise die Option der Zweitfertigung einer Produktlinie in einem anderen Werk an den ermittelten Herstellkosten scheitert. Wer sagt denn, dass eine schon abgeschriebene (Reserve-)Maschine eher verschrottet werden soll, als sie mit geringeren als der ursprünglichen kalkulatorischen Afa in die Produktkalkulation einfließen zu lassen? Am Ende sind es die vielen kleinen Lösungen, die eine neue Kultur der Flexibilität (= Standardprozesse) wachsen lassen.

Fluss steuern, nicht Bestände verwalten.

Die gewonnene Flexibilität muss ihre PS auch auf die Straße bringen. Das Ziel ist schnell zu sein, ohne Umwege (lean) und ohne Hektik. Das klappt nur, wenn Aufträge fließen. Fließen setzt kleine Produktionsmengen (Lose) voraus, idealerweise Losgröße 1. Ohne Bestände geht es aber auch nicht. Schon zum Fließen braucht es Material-Bestand (Flussbestand) und überall dort, wo ein langsamer Prozess auf einen schnellen trifft, helfen Bestände, diese Lieferbereiche zu entkoppeln. So dauert die Beschaffung oder Herstellung von zehn verschiedenen Metall- oder Kunststoffteilen meist länger als deren Zusammenbau in der Montage. Diese Beispiele zeigen, dass (notwenige) Bestände eine systemabhängige Größe sind. Geschickter gestaltete oder schlankere Prozesse benötigen weniger Bestände – womit wir wieder beim Fließen wären, denn das ist der Hebel. Darüberhinaus dienen Beständen natürlich auch als gezielte Risikopuffer. Aber Vorsicht: „zufällige“ Bestände (z.B. losgrößenbedingte Übermengen) bilden eher ein Risiko, keinen Puffer.

„Systemische“ Flexibilität ist in erster Linie eine Frage der längerfristigen Produktions- oder Supply Chain Strategie und dient der Lieferfähigkeit. Im Verbund mit dem Ziel verlässlich kurzer Lieferzeiten verbessert sich in der Regel auch die Kostenposition. (Die häufig übliche HK-Orientierung darf dann getrost ins zweite Glied rücken.)

(Nützliche Stichworte zum Thema Flexibilität finden Sie auch in einer BVL-Studie „Supply Chain Agility“ von 2012.)

* schon über 10 Jahre alt, aber immer noch lesenswert: Hau L. Lee „The Triple-A-Supply Chain“, Harvard Business Review, October 2004.

** anregendes Buch zum Thema: David Simchi-Levi „Operations Rules – Delivering Customer Value trough Flexible Operations“, 2010 Massachusetts Institute of Technology.

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