Liefertreue und Produktivität! Mobilisieren sie Kapazitätsreserven.

Die gute Nachricht: volle Auftragsbücher und hohe Auslastung in der Produktion. Die schlechte Nachricht: unzuverlässige Liefertermine und viel Improvisationsaufwand der Mitarbeiter.

Manche Auftragswelle kommt überraschend. Die Produktion fährt Zusatzschichten, der Vertrieb vertröstet Kunden oder ändert kurzerhand Auftragsprioritäten, um hartnäckige Einkäufer zufriedenzustellen. Die Produktivität erscheint hoch, der Durchsatz in der Produktion nähert sich Rekordständen. Leider hält die Termintreue nicht Schritt.

Die berühmte Extrameile sind viele Mitarbeiter schon gegangen. Mehr Druck bringt nicht mehr Durchsatz, vor allem keine präziseren Termine. Nachdenken können sie sich aus Zeitgründen nicht leisten? Sollten sie aber.

(1) Besser ein realistischer Termin als enttäusche Versprechungen

Viele Kunden sind schon zufrieden, wenn sie realistische Liefertermine erhalten, die am Ende eingehalten werden. Aber sind sie überhaupt in der Lage, verlässliche Termine zu geben? Oder ist die Lieferzeit, mit und ohne Zutun von Terminjägern, eher ein Zufallsprodukt?

Das Dilemma: Zuverlässige Durchlaufzeiten in Produktion und Logistik gehen auf Kosten maximaler Kapazitätsausnutzung. Maximale Effizienz am Kapazitätslimit wird mit extrem hohen Warte- und Auftragsdurchlaufzeiten erkauft. Jeder zusätzliche Auftrag in der Kette verlängert die Durchlaufzeiten (= Wartezeiten + Prozess-/Berarbeitungszeiten).

Lange Wartezeiten im Produktionsprozess sind das Gegenteil kurzer Durchlaufzeiten oder überschaubarer Bestände. Und umgekehrt. Wer den Auftragsbestand in der Produktion begrenzt und konstant hält, erreicht kurze und verlässliche Durchlaufzeiten. Das gelingt jedoch nur, wenn die Prozesse „etwas Luft“ haben und nicht auf maximale Auslastung getrimmt sind.

Es gilt ein einfaches Gesetz, Little`s Law:
Durchlaufzeit (DLZ) = Produktionsbestand (WIP)/Durchsatz (D) pro Zeiteinheit
(Bild 1)

Littles Law
Bild 1: Little’s Law

Ist der Produktionsbestand höher als das „minimale WIP“ erzeugt jeder weitere Auftrags-Bestand nur Wartezeiten, die die Durchlaufzeit verlängern.

Da Prozesse natürliche Schwankungen aufweisen, ist der minimale Produktionsbestand in der Praxis deutlich größer als der theoretische Wert. Dennoch, je stabiler die Prozesse, desto knapper lässt sich der Fertigungsbestand halten.

(2) Zusammenhänge erfassen und Ziele klären

Häufig gibt es eher zu viele Ziele als zu wenige – mit der Gefahr von inneren Widersprüchen. Sinnvoll ist es, auch aus Kostengründen, kurze verlässliche Durchlaufzeiten mit einer guten Kapazitätsausnutzung zu kombinieren. Das „treibende“ Ziel ist jedoch die Zeit, die Nutzung der Kapazitäten das „Optimierungsziel“.

Das erfordert drei Bedingungen:

  • Ermitteln des Durchsatzes, der unter normalen Bedingungen erreicht werden kann. Wo das nicht so leicht fällt, hilft „Schritt 3“ (siehe unten).
  • Ermitteln des minimalen Produktionsbestands, bei dem die Engpass Kapazitäten möglichst nie „leer laufen“. Ein Näherungswert kann rechnerisch ermittelt werden. Der Rest ist Ausprobieren.
  • Steuern der Produktionsprozesse mit dem primären Ziel, den minimalen Produktionsbestand konstant zu halten. Dazu eignet sich das Conwip-Verfahren.

Ein Problem bleibt: Wenn kurzfristig mehr Bestellungen eingehen, als bearbeitet werden können, steigt die Lieferzeit.

(3) Kapazitätsreserven dingfest machen

Bevor neu investiert wird, lohnt ein Blick auf die vorhandenen Kapazitäten. Häufig lässt sich der Durchsatz mit relativ einfachen Mitteln um 5-10% steigern:

Womit ist die Produktion heute belastet?

Wird nur das produziert, wofür tatsächlich Kundenbestellungen vorliegen oder was in naher Zukunft für einen Kundenauftrag gebraucht wird? Gibt es „optimale Losgrößen“, die ins Lager gehen und im ungünstigen Fall dort lange liegen? „Optimale Losgrößen“ haben die Tendenz, dringende Kundenaufträge zu blockieren. Nur Kundenaufträge bringen Umsatz. Auch wenn es dem gängigen Kostendenken widerspricht, verzichten sie auf optimale Losgrößen oder maximale Anlagen-Auslastung. Alle Kapazität den aktuellen Kundenaufträgen!

Wo stecken die Kapazitätskiller?

Wo liegen die Engpässe? Nur dort geht Kapazität verloren. Ein Indiz sind viele wartende Aufträge und hohe Fertigungsbestände. Häufig ist es vertrackter und Engpässe „wandern“. Manchmal genügt es, einfachere Arbeitsplätze, die gelegentlich zum Engpass werden, mit geringen Kosten zu erweitern, bis die wenigen teuren Engpassbereiche klar sichtbar sind.

Kein Engpass Arbeitsplatz ist statisch. Kapazitätskiller sind die offensichtlichen oder verborgenen Dynamiken. Sie fallen in vier Klassen:

  • Dynamische Ankunftsrate neuer Aufträge
    Nur wenn tatsächlich ein Auftrag da ist, kann die vorhandene Kapazität genutzt werden.
  • Natürliche Fluktuation
    Beispielsweise schwanken die Bearbeitungszeiten in gewissen Grenzen.
  • Schwankungen durch Unvorhergesehene Ereignisse
    Maschinenausfälle, fehlendes Material, und sonstige Störungen.
  • Schwankungen durch Planbare Unterbrechungen
    Rüstzeiten oder die wiederkehrende Wartung von Maschinen.

Bild 2 verdeutlicht das. Der Normalfall ist „Zustand 1“. Es wird produziert. Ein oder mehrere Aufträge befinden sich in der Warteschlange.

Dynamik in Produktionsprozessen kostet Effizienz
Bild 2: Dynamik in Produktionsprozessen kostet Effizienz

In der Simulation zeigt sich, wie die in Zustand 2 und 3 dargestellten Störungen auf die Effizienz wirken. Das Modell (Bild 3) besteht aus drei hintereinander gelagerten, abhängigen Arbeitsstationen 1, 2 und 3. Jedes Produkt durchläuft alle drei Stationen.

Produktionslinie mit 3 Arbeitsstationen
Bild 3: Modell einer Produktionslinie mit 3 Arbeitsstationen

Diese Produktionslinie erlaubt einen maximalen Durchsatz von 48 Stück pro 24 Stunden. Die tatsächliche Kapazität hängt davon ab, wie gut die auftretenden Schwankungen („Variationskoeffizienten“) im Griff sind. Die Durchlaufzeit bleibt konstant und ist im folgenden Beispiel auf das 3-fache der Bearbeitungszeit begrenzt.

Mit Hilfe eines (eigenen) Simulationsmodells wird die Auswirkung unterschiedlicher Schwankungen auf die Effizienz der Produktionslinie untersucht. Es werden zwei Variationskoeffizienten unterschieden, „Ankunftsrate“ und „Prozess“. Der Variationskoeffizient „Prozess“ setzt sich aus den drei Komponenten Bearbeitung (B), Planbare Unterbrechungen (P) und Störungen (S) zusammen. In Tabelle 1 sind verschiedene Konstellationen aufgeführt.

Tabelle 1: Variationskoeffizienten
Tabelle 1: Variationskoeffizienten

Beispiel für Variationskoeffizienten

Beispiel (gelb hinterlegte Zeile): Die Bearbeitungszeit (B) pro Auftrag bzw. Stück beträgt im Mittel 30 Minuten. Bei unterstellter Normalverteilung der Bearbeitungszeiten und einer Standardabweichung von 6 Minuten ergibt sich ein Variationkoeffizient von 0,2. Variationskoeffizient = Standardabweichung/Mittelwert, also 6/30 = 0,2. Damit liegen 95% aller Bearbeitungszeiten zwischen 18 und 42 Minuten.

Ein planbarer Rüstvorgang (P) sei nach jeweils 12 Stück, also etwa alle 6 Stunden erforderlich, und dauert 5 Minuten. Die effektive mittlere Bearbeitungszeit steigt auf 30,42 Minuten. Für die Rüstzeiten gilt ebenfalls ein Variationskoeffizient von 0,2.

Ein Ausfall durch Störung (S) tritt alle 4 Stunden auf und dauert etwa 20 Minuten – Variationskoeffizient 0,3. Halbiert sich die Anzahl der Unterbrechungen und tritt nur alle 8 Stunden auf, sinkt der Variationskoeffizient auf 0,26. Die gesamte Schwankung weist einen Variationskoeffizienten von 0,3 auf. Die Tabellenwerte zeigen, dass die resultierende Schwankung dem höchsten Einzelwert folgt. Das entspricht auch der Intuition. Das größte Problem dominiert andere Schwachstellen.

In Tabelle 2 sind einige Beispiele durchgerechnet. Im ungünstigen Fall A1 werden in 24 Stunden 41 Stück hergestellt, bei einer theoretischen Kapazität von 48 Stück. Es ergibt sich eine Effizienz von 85%. In den besten Fällen B5 oder C6 steigt die Effizienz auf ideale 99%. Was muss passieren, um die Effizienz so zu steigern?

Tabelle 2: Simulation verschiedener Szenarien
Tabelle 2: Simulation verschiedener Szenarien – ziemlich optimal: Beispiel C6

Begriffsklärung:
Die drei Gruppen von Beispielen A, B, C unterscheiden sich in der Ankunftsrate und im Variationskoeffizienten der Ankunftsrate: abnehmende Schwankungen (A –> C) und steigende Belastungen (1 –> 6).

  • Ankunftsrate AP 1: Eintreffen der Aufträge an der ersten Arbeitsstation.
  • Bearbeitungsrate AP 1, 2, 3 (Kapazitäten an den drei Arbeitsstationen) –> Stück pro 24 Std.
  • A-Rate AP 2: Ankunftsrate der Aufträge an der zweiten Arbeitsstation (ist abhängig von der Ankunftsrate an der ersten Arbeitsstation sowie von den Prozess-Schwankungen „V-Koeff. Prozess“).
  • Wartezeit: Wartezeit als Vielfaches der Bearbeitungszeit, hier mit dem Faktor 2.
  • Effizienz: Tatsächlicher Durchsatz (Ankunftsrate) im Verhältnis zum maximalen Durchsatz (Bearbeitungsrate, differenziert nach den Arbeitsstationen AP 1, 2, 3).

(4) Verbesserungs-Massnahmen angehen

Schwankungen im Produktionsprozess reduzieren (A1 –> A3)

Wo liegt die Hauptursache für die hohen Schwankungen (Variations-Koeffizient von 0,4)? In der Bearbeitung selbst, bei Rüst- oder Wartungsaktivitäten oder bei häufigen ungeplanten Störungen, wie fehlendem Material oder Unterbrechung eines Auftrags, weil ein noch wichtigerer ansteht? Es sinnvoll, sich auf die Hauptursache zu konzentrieren. In vielen Fällen bringen beispielsweise die Reduzierung von Rüstzeiten oder eine zuverlässigere Materialversorgung der Produktion große Effekte. Hier im Beispiel schafft die Halbierung der Schwankungen ein Effizienz-Plus von 5%.

Kapazitäten gezielt ausweiten (A3 –> A5)

Statt Geld in nutzlose Bestände zu investieren, lohnt es sich häufig, Kapazitäten punktuell auszuweiten, um nur die wirklich teuren Anlagen nahe am Kapazitätslimit zu fahren. Beispiel A5 unterstellt, dass Arbeitsstation 1 um 8% erweitert wird, Arbeitsstation 2 um 4%, die teure Arbeitsstation 3 wird nicht verändert. Der errechnete Kapazitätssprung beträgt 4%.

Ankunftsrate neuer Aufträge stabilisieren (A5 –> B5)

Mit cleveren Vertriebsstrategien lassen sich Auftragseingang oder erwartete Liefertermine in gewissen Grenzen steuern. (Mit teuren Fertigwarenbeständen natürlich auch). Generell gilt jedoch: Jede vorausgehende Wertschöpfungsstufe erzeugt mehr oder weniger große Schwankungen in der Ankunftsrate. Je kleiner dieser sind, desto besser lässt sich die vorhandene Kapazität nutzen. Eine Schwankung mit einem Koeffizienten von 0,5 und einer durchschnittlichen Ankunftsrate von 42 Stück pro 24 Stunden, bedeutet eine Standardabweichung von 21 Stück. In 95% aller 24 Stunden Intervalle liegt die Ankunftsrate zwischen 0 und 84 Stück (Normalverteilung). Bei einer Halbierung der Schwankung von 1 auf 0,5 steigt hier im Beispiel A5 à B5 die Effizienz nochmals deutlich von 94% auf 99%.

Fazit

Beispiel C6 in Tabelle 2 beschreibt einen nahezu idealen Zielzustand. Mit steigender Belastung, aber niedrigen Schwankungsbreiten und minimal erhöhten Kapazitäten in den beiden vorlaufenden Arbeitsstationen wird die Engpasskapazität von Arbeitsplatz 3 zu 99% genutzt (in der Realität wird’s etwas weniger sein). Der Einsatz von Lean Management Methoden hilft sehr bei diesem Bemühen.

Auf herkömmliche Strategien, wie die Ausweitung der Warteschlangen und hohe Bestände in der Produktion können sie getrost verzichten. Zunächst jedoch sollten sie Zeit investieren, um den Dingen auf den Grund zu gehen …

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