Sind Spezialisten die Lösung oder das Problem?

Ein Plädoyer für mehr Dialog zwischen Verkauf und Produktion/Supply Chain Management

„Er versteht es einfach nicht!“ Auch ich ertappe mich immer mal wieder bei diesem stillen Vorwurf an mein Gegenüber. Aber trifft das den Kern? Und ruft das nicht nach Dialog?

Eindrücke und Fragen

Da ist die Vertriebsfrau, die sich für ihren Kunden einsetzt und einen schnellen, verlässlichen Liefertermin garantieren will. Da ist aber auch der Produktionsmann, der seine Effizienzkennzahlen im Kopf hat, rüst-optimiert fertigen will und dem Sondereinsätze ein Graus sind. Oder der Logistikleiter, der an pünktlichen Auslieferungen gemessen wird, zudem aber noch seine Transportkosten senken soll. Jeder verfolgt das, was ihm wichtig erscheint und so, wie er es versteht. Zementiert wird das häufig durch den Glauben, dass wenn jeder tut, was er soll, es insgesamt für das Unternehmen schon gut sein wird. Aber woher kommen dann die vielen Reibereien und Konflikte? Sind die Ziele wenig abgestimmt? Liegt alles nur an persönlichen Unzulänglichkeiten? Ist die Organisation schuld? Oder liegt es an der Unvollkommenheit der Prozesse und (IT-)Systeme?

Hoffnungen

Das gängige Schema ist, dass Spezialisten oder Experten beauftragt werden, neue Lösungen zu erarbeiten. Das ist ja nicht schlecht. Also werden Prozesse weiter optimiert*, verbesserte IT-Systeme geplant oder ganz neue Konzepte ausgerufen, die alte Probleme überwinden sollen. Ein hochaktuelles Beispiel ist „Industrie 4.0“, das Internet der Dinge, die direkte Vernetzung von Objekten (Werkstücke/Aufträge) und Prozessen (Herstellung, Transport). Eine großartige Sache, die sicher kommen wird. Nur, wird sie auch den oben geschilderten Zustand beenden?

Defizit

Bekanntlich sind Spezialisten Leute, die von ganz wenig sehr viel verstehen. Je komplexer Prozesse und Organisationen werden, desto mehr sind wir auf Spezialisten angewiesen – und umso komplexer werden unsere Lösungen, jedenfalls meistens. Es werden viele Wie-Fragen kompetent beantwortet – die Wozu-Fragen stehen eher in der zweiten Reihe. Umgekehrt wäre es besser.

Perspektive

Was wäre, wenn … der Produktionsmann mal für einen Monat den Verkauf übernimmt und umgekehrt die Vertriebsfrau Produktion und Supply Chain steuert? Sie können es nicht? Okay, aber vielleicht ist gerade das die Chance, andere Fragen zu stellen, zuzuhören und ohne Anspruch, es besser zu wissen, allzu gängige Antworten und Lösungen einfach nicht zu akzeptieren. Denkpausen einlegen im hektischen Getrieben-sein des Alltags. Und nach diesem Experiment nicht einfach zur alten Tagesordnung überzugehen, sondern die neuen Fragen gemeinsam weiterverfolgen.

Anregung zum Dialog

Wem das zu weit geht, der könnte über folgenden Grundsatz zwischen Marketing/Vertrieb und Produktion/Supply Chain nachdenken: Wir helfen uns gegenseitig, erfolgreich zu sein. Nach kurzer Ratlosigkeit stellt sich die Frage: Wie soll das denn gehen? Ein Patenrezept kenne ich auch nicht, jedoch Möglichkeiten einfach mal anzufangen:

  •  Die eigene Situation aus der Perspektive des anderen wahrnehmen lernen.
    Beispielsweise sich als kleine Gruppe außerhalb zu einem Tages-Workshop zusammen finden; selbst erlebte typische Situationen schildern und besprechen – worum geht es, was wollen wir erreichen, wie schaffen wir es, auf welche Hindernisse stoßen wir, welches Gedankenmodell leitet uns, muss das alles so sein oder könnte man es auch anders angehen, etc.?
  • Neue Zielzustände gemeinsam mit den „Laien von nebenan“ erarbeiten.
    Zielzustände“ sind ein gutes Vehikel, wenn ein Prozess (oder ein ganzer Bereich) neu gestaltet werden soll. Aus der Perspektive der Nutznießer und der Beteiligten wird beschrieben, wie gearbeitet wird, wenn das neue Konzept umgesetzt ist; nicht als abstrakte Zielsetzung, sondern so wie es erlebt werden soll. Da liegt es nur nahe, wenn Nutznießer (z.B. Vertrieb) und Akteure (z.B. Produktion/Logistik) vorher gemeinsam am Tisch sitzen.
  •  Konflikte mal anders sehen.
    Ein Konflikt wird häufig als zwischenmenschliches Problem erlebt oder als Situation, die einfach von der Geschäftsleitung entschieden werden muss. Man kann es auch anders betrachten: Konflikte können unterschiedliche Annahmen, Vorstellungen und Denkmodelle offenbaren – das bietet die Chance, voneinander zu lernen oder alte Muster in Frage zu stellen. Im Rollenwechsel von Spezialist und Laie kann das ein spannender Dialog werden. Jeder ist mal Laie oder Spezialist.

Die produktivste Art von Dialog ist zusammen zu arbeiten. Wenn Sie einen der drei oben beschriebenen Wege einschlagen, stoßen Sie unweigerlich auf offene und lohnende Aufgaben.

Zum Schluss noch ein Wort frei nach William Isaacs, MIT Sloan School of Management: „Dialog ist nicht nur eine Ansammlung von Techniken, …, während des Dialogprozesses lernen Menschen gemeinsam zu denken, … und entwickeln eine kollektive Sensibilität …“ Also Team Learning (Peter Senge u.a.), nur mit einem etwas weiter gefassten Verständnis von Team.

(* Spezialisten sind wichtig, wenn Prozesse „robust“ gestaltet werden sollen. Ohne robuste Abläufe funktionieren Supply Chains nicht verlässlich. Robust bedeutet u.a. ein gewisses Maß an Redundanz in Zeiten, Kapazitäten und Qualifikationen – also der Verzicht auf das letzte Quäntchen rechnerische Effizienz, um Spielräume zu erhalten, kleinere Störungen vor Ort abzufedern bevor sie sich zu größeren Problemen auswachsen.)

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