Viele Fertigungsunternehmen setzen Lean-Methoden ein. Daneben kümmern sie sich um hohe Produktivität, einen besseren Lieferservice zum Kunden, die Reduzierung von Beständen oder die Reorganisation ihrer weltweiten Lieferketten. Aber warum „daneben“?
Nun will ich keine Doktorarbeit schreiben (steht in diesen Zeiten ja ohnehin unter kritischem Vorbehalt), sondern einer Beobachtung auf die Spur kommen: in den Meisterbereichen der Produktion finden sich 5S, KVP-Tafeln, Kanban-Regelkreise oder optimale Rüstreihenfolgen. Heftet man sich nun an einen Kunden- und später Fertigungsauftrag und folgt seinem Weg durch IT-Systeme, Fertigungsbereiche, Bereitstellungsflächen und Lager, dann verbringt man, jenseits der getakteten Großserienfertigung, die meiste Zeit immer noch mit Warten. Die Summe vieler Mikro-Leans ist häufig leider alles andere als lean.
Durchlaufzeit verkürzen
Die „7 Arten der Verschwendung“, angewendet auf eine komplette Lieferkette, führen zur Einsicht, dass der Schlüssel in der Verkürzung von Durchlaufzeiten liegt. Das belegt auch ein Zitat von Taiichi Ohno von Toyota (1988): Alles, was wir tun, ist, auf die Durchlaufzeit zu achten von dem Moment, in dem wir einen Kundenauftrag erhalten bis zu dem Moment, in dem wir das Geld in Empfang nehmen. Wir verkürzen die Durchlaufzeit, indem wir alle Bestandteile eliminieren, die keinen Mehrwert für den Kunden erzeugen. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen aus der Beratungspraxis. Stabilere und kürzere Durchlaufzeiten führen zu höherer Produktivität und tragen zur Kostensenkung bei. So sank beispielsweise bei einem unserer Kunden völlig unerwartet die Stromrechnung: teure Samstagsarbeit in der Fertigung war einfach überflüssig geworden, bei höherem Durchsatz.
Mico-Lean ist nicht schlecht. Aber ohne den Blick auf die ganze Lieferkette verpuffen wesentliche Effekte. Die Anwendung von Lean-Methoden im Herstellprozess konzentriert sich häufig auf „Inseln“ und führt nicht automatisch zur optimalen Steuerung von Aufträgen durch manchmal lange und komplexe Prozess-Ketten. Es soll aber „wie am Fließband“ laufen, auch in der werkstattorientierten Fertigung, wo es dieses Fließband physisch nicht gibt. Wie geht das?
Fließend fertigen (auch in der Werkstattfertigung)
Die Kundennachfrage schwankt, die Produktion soll dennoch gleichmäßig arbeiten. Das geht nur mit Puffern – am Anfang der Prozesskette oder am Ende. Produkte, die aus dem Fertigwarenlager abfließen, lösen ein Nachfüll-Signal aus und damit einen neuen (Plan-) Auftrag (Build-to-Stock) – Bild 1.
Bild 1: Ein Fertigwarenlager puffert die Schwankungen der Markt-Nachfrage.
Alternativ wird aus einer Kundenbestellung direkt ein Planauftrag (Build-to-Order) – Bild 2.
Bild 2: Der (Kunden-)Auftragsvorrat puffert die Produktion gegen Schwankungen.
Nun werden Planaufträge kontrolliert freigegeben und zwar immer dann, wenn die Produktion tatsächlich produzieren kann. Reicht die Kapazität nicht aus, um alle Aufträge termingerecht auszuführen, lässt sich diese Kapazität hoffentlich kurzfristig in gewissen Grenzen erhöhen oder aber der Planauftrag muss im Puffer so lange warten bis freie Kapazität zur Verfügung steht.
Bild 3 zeigt die Kombination eines Build-to-Order und Build-to-Stock Systems in einem zweistufigen Produktionsprozess.
Bild 3: Auftragsvorrat oder Materiallager puffern die Produktionsbereiche gegen Schwankungen.
Lean steuern – mit ConWIP
Um eine stabile Produktion zu gewährleisten, müssen, neben der Marktdynamik, natürlich auch Prozessschwankungen gepuffert werden. Besonders kritisch ist das hinter potenziellen Engpass-Bereichen. Lean gestaltete Fertigungsprozesse vermindern die Schwankungsanfälligkeit und damit die erforderlichen Material- oder Kapazitätspuffer. Systemimmanent bleibt aber die Notwendigkeit, Puffer einzubauen und sie gezielt zu nutzen. Gezielt nutzen, im Sinne kurzer und stabiler Durchlaufzeiten heißt, keine Überlastsituationen in der Produktions- oder Lieferprozessen zulassen.
Am einfachsten geht das mit einer cleveren Steuerung des Flussbestands in der Kette (WIP oder Work-in-Process). Das Verfahren heißt daher ConWIP – Constant Work-in-Process. Es verbindet die schlichte Einsicht von „Little’s Law“ (ab einem gewissen Auftragsvolumen im Produktionsprozess führt jeder weitere Auftrag automatisch zu verlängerten Durchlaufzeiten) mit der „Engpass-Theorie“ (der Engpass begrenzt den Durchsatz des Systems). Mit gekoppelten ConWIP Regelkreisen lassen sich auch komplexe Prozessketten abbilden und steuern.
Lean und IT liegen gelegentlich über Kreuz, nicht ohne Grund. Lean Steuern bedeutet eben auch, das Heil nicht immer in mehr IT zu suchen und lieber die Komplexität der eingesetzten Systeme zu reduzieren. So bietet SAP eine Vielzahl von Optionen, Bearbeitungs- und Pufferzeiten zu berücksichtigen. Am Ende blickt niemand mehr so recht durch wie das System im Einzelfall rechnet und ob der entstandene Bedarfsplan wirklich plausibel ist. Auch hier gilt: je einfacher und transparenter desto besser. Ob „Industrie 4.0“ in ferner Zukunft hilft, die beiden Welten IT und Lean zu versöhnen? Für heute gilt erst mal:
Back-to-the-roots
- Verstehen, welche Prinzipien wo am Wirken sind …
Little’s Law, Engpass-Theorie, Schwankungen in Prozessen, … - wo Sand im Getriebe ist …
Komplexität in IT-Systemen, Unruhe durch Prioritätsänderungen, Mängel in Planungs- und Dispositionsverfahren, …, und - worauf es am Ende wirklich ankommt …
Aufträge sollen verlässlich fließen, der dringendste zuerst.
Mit diesen Erkenntnissen sind gute Lösungen nicht mehr weit. Viel Erfolg!