Die erste Amtshandlung morgens im Büro, Rechner anstellen. Das nahe liegende Fenster zur Wirklichkeit ist die SAP-Maske auf dem Bildschirm. Über Nacht sind neue Aufträge aufgetaucht, Termine haben sich verschoben, Engpass-Ampeln stehen auf Rot. Eine Vielzahl von Kennzahlen über Bestände, Reichweiten oder Verbrauchsgrößen verweigert die klare Aussage, was nun eigentlich zu tun ist. Das schrille Klingeln des Telefons und die erste Eskalation des Tages sind da schon konkreter. Ein Kunde wartet auf dringende Teile, die Fertigung kämpft mit einem technischen Problem, der einzige kompetente Einrichter befindet sich gerade auf Schulung. Der Tag beginnt wie immer. Improvisieren und ansonsten dem IT-System vertrauen.
Potenziale
Kinder, heißt es, verbringen heute zu viel Zeit am Computer, statt die reale Welt draußen zu erobern. Geht es uns nicht manchmal genauso? Neurowissenschaftler haben inzwischen erkannt, dass unser Gehirn nicht statisch, sondern formbar ist und ein Leben lang Neuronen (und Fähigkeiten) entwickelt, wenn wir uns mit Neugier bisher unbekannten Eindrücken und Herausforderungen stellen. Oder umgekehrt, wo wir das nicht tun, verkümmern unsere Potentiale. Die berufliche Welt um uns herum schrumpft dann auf das Format des SAP Abbilds des Geschehens und die unmittelbar erlebten sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz.
Modell und Realität
Supply Chain Management hat viel mit Modellen (als Abbild der Wirklichkeit) und mit mathematischen Verfahren zu tun, die versuchen, die Dynamik im System von Kunden, Lieferanten, Material- und Informationsflüssen sowie Beständen abzubilden. ERP-Systeme sind Werkzeuge, um diese Flüsse zu bewirtschaften. Die Realität jedoch ist viel komplexer als Modelle und SAP-Systeme suggerieren (selbst wenn man unterstellt, dass Stammdaten und Parameter in den Systemen okay sind). Ein kleines Beispiel:
Beispiel
Ein Unternehmen bezieht Teile von einem Zulieferer. Die Wiederbeschaffungszeit beträgt 5 Arbeitstage (sagt das SAP-System), bestellt werden kann täglich. Es macht nun einen großen Unterschied, ob jede Bestellung sofort einen Fertigungsauftrag nach sich zieht und die zügig produzierte Menge unmittelbar ausgeliefert wird oder Bestellungen gesammelt werden und nur alle 2 bis 3 Tage ein neues Fertigungslos aufgelegt wird oder ob der Lieferant mit konstanter Rate (nach Forecast oder Plan) in ein Lager produziert, aus dem (nach dreitägiger Verzögerung durch die träge interne Auftragsbearbeitung) Bestellungen ausgeliefert werden. So lange der Kunde kontinuierlich und ohne allzu große Schwankungen bestellt, lassen sich die 5 Tage Wiederbeschaffungszeit wahrscheinlich zu über 90% einhalten. Wenn die Nachfrage jedoch kurzfristig sinkt, um bald danach wieder steil anzusteigen, zeigen sich die wahren (Un-)Fähigkeiten des Lieferanten. Es ist also gut zu wissen, wie die vorgelagerte Lieferkette im Inneren funktioniert und ob das am Ende gut genug ist.
Wissen
Aber, ist das Wissen, wie der Lieferant arbeitet, tatsächlich vorhanden? Wer ist hinterher, dass die eigene Organisation Fähigkeiten entwickelt, genau hinzuschauen, was Kunden, Lieferanten und die eigenen Fachbereiche tun? Was in einer Organisation wirklich interessiert, verraten die am häufigsten gehandelten Schlagworte: Kosten, Produktivität oder Lieferzuverlässigkeit, Schnelligkeit oder Stabilität, Robustheit, Widerstandsfähigkeit („resilience“). Sie werden zum Filter unseres Wahrnehmungsvermögens. Sehen wir überall Kosten oder achten wir eher auf die unbedingte Einhaltung von Lieferzusagen und auf Anpassungsfähigkeit* (mit allem Auf und Ab als Normalfall)? Wie messen wir, was uns wichtig ist – auch die qualitativen Aspekte? Was tun wir mit unseren Informationen und Einsichten? Geben wir sie weiter oder reißt die Kette genau bei uns ab?**
Wahrnehmen, Weitergeben – jenseits von Zahlen
Komplexe Systeme, wie es Supply Chains sind, lassen sich nicht in erster Linie mit „harten Fakten“ managen. Es braucht vor allem Kontextwissen und Verständnis, um das, was in den IT-Systemen steht, richtig zu interpretieren und entsprechend zu agieren. Schließlich kommt es darauf an, nicht nur Waren im Fluss halten, sondern zunächst mal (die richtigen) Informationen – und die sind keineswegs neutral und wertfrei, sondern ein Produkt unserer Wahrnehmungsfilter.
Gönnen Sie sich und Ihren Mitarbeitern einfach etwas mehr Termin- und PC-frei, schauen Sie, was „draußen“ läuft, und sprechen Sie mit Leuten, die nicht unbedingt nur Ihre Sicht der Welt teilen.
* „In an unpedictable world, sometimes the best investments are those that minimize the importance of predictions“, Gökce Sargut/Rita G. McGrath „Learning to Live with Complexity“ Harvard Business Review, September 2011
** R. Slone, J. Mentzer, J.P. Dittman „Are You the Weakest Link in Your Company’s Supply Chain?“ Harvard Business Review, September 2007